Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Schreiben und Lesen

Die vier Sprachsysteme nach Berninger und GrahamDie vier Sprachsysteme nach Berninger und GrahamWer am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben will, muss lesen und schreiben können. Aber nicht nur das: auch Zuhören und Sprechen sind wichtige Bestandteile dieser Teilhabe. Diese vier Systeme, Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben, sind von Virginia  Berninger und Steve Graham 1998 als die vier grundlegenden Sprachsysteme bezeichnet worden (nachzulesen im Artikel „Language by hand: A synthesis of a decade of research on handwriting. Handwriting Review, 12, 11-25“).

 

Von den vier Systemen genießt besonders das Lesen viel Aufmerksamkeit. Weniger beachtet wird die Rolle des Hörens, des Sprechens und des Schreibens mit der Hand. Handschreiben wird oft als rein motorischer Akt angesehen, der im Zeitalter von Computer, Tablet und Smartphone nur noch wenig erforderlich ist. Schreiben erfolgt nach dieser Auffassung im Normalfall mit den genannten Geräten, mit der Hand schreibt man angeblich höchstens noch kurze Notizen („bin einkaufen“) oder den Einkaufszettel („Brot, Tomaten, 2 x Seife, Butter“). Diese Haltung führt auch dazu, dass in der Schule dem Erwerb des Handschreibens weniger Bedeutung zugemessen wird. Zwar müssen Kinder noch lernen, mit der Hand zu schreiben, ihre Schreibprodukte müssen jedoch nicht unbedingt strengeren Kriterien genügen. „Hauptsache man kann erkennen, was gemeint ist“, dieser Satz drückt die vernachlässigende Haltung gegenüber dem Handschreiben wohl am treffendsten aus. Ebenso lässt er eine resignierende Haltung erkennen: Viele Lehrerinnen und Lehrer geben sich dann auch mit den entsprechenden Schreibprodukten zufrieden.

 

Damit verkennen sie die äußerst wichtige Funktion des Handschreibens für das schulische Lernen. Mit der Hand zu schreiben ist in der Schule der erste systematische Zugang zur Schriftlichkeit. Auf keine andere Weise gelingt dieser Zugang so wie mit der Hand. Dies lässt sich wissenschaftlich untermauern: Kinder erkennen Buchstaben besser und können auch Wörter besser richtig schreiben, wenn sie sie selbst mit der Hand geübt haben! In einer Untersuchung wurde dies damit verglichen, dass Kinder dargebotene Wörter mit Buchstabenkarten nachlegten oder sie auf der Tastatur des Computers tippten (nachzulesen im Artikel von „Cunningham, E-E. und Stanovich, K.E. (1990). Early spelling acquisition: writing beats the computer. Journal of Educational Psychology, 82(1), 159-162“). Im nachfolgenden Test waren die Kinder, die mit der Hand geschrieben hatten, den anderen Kindern überlegen, und zwar auch dann, wenn der Test mit der Tastatur („Tippen“) absolviert wurde, also in einer für sie vorher nicht geübten Weise.

 

Spelling als GrundprozessSpelling als GrundprozessWeitere Untersuchungen belegen, dass es äußerst wichtig ist, dass Kinder mit der Hand lesbar und auch schnell schreiben können. Je automatisierter und schneller man schreiben kann, desto leichter fällt es, sich auf den zu schreibenden Inhalt zu konzentrieren, da "die Hand mit den Gedanken Schritt halten kann". Wer statt dessen beim Schreiben sich mehr auf die Verfertigung der Schrift und die Schreibweisen der Wörter konzentrieren muss, wird dadurch vom Inhalt seiner Arbeit abgelenkt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die Qualität von schriftlich erstellten Produkten um so besser ist, je schneller man schreiben kann.  Die Erklärung lautet, dass die Geschwindigkeit des (Hand)Schreibens damit stellvertretend für den Grad steht, mit dem das (Hand)Schreiben einschließlich der Rechtschreibung bereits automatisiert ist. Läuft die Verfertigung der Schrift und die (Recht)Schreibung der Wörter beim Schreiben quasi "nebenbei" (= automatisiert) ab, steht für das Verfassen des Textes selbst mehr Kapazität zur Verfügung. Das führt zu besseren und konsistenteren Texten.

 

Wissenschaftliche Untersuchungen lassen vermuten, dass schnelleres Schreiben auch mit  besserem Lesen verbunden ist. Der Zusammenhang lässt sich gut damit begründen, dass für alle vier oben genannten Sprachsysteme – Hören, Sprechen, Schreiben Lesen – das sogenannte „Spelling“ eine Schlüsselrolle spielt. Mit Spelling wird die Reihung der Laute beim Sprechen und Hören und die Reihung der Buchstaben beim Schreiben und Lesen bezeichnet. Sie ist immer erforderlich,  bei der Sprachproduktion (Sprechen, Schreiben) und bei der Sprachaufnahme (Hören, Lesen). Bei der Sprachproduktion muss diese Reihenfolge für Wörter sinnhaft erzeugt, bei der Sprachaufnahme sinnhaft zu Wörtern integriert (synthetisiert) werden. Mit der Hand zu schreiben stellt in diesem Zusammenhang im Vergleich zum Beispiel mit der Bedienung einer Tastatur („Tippen“) eine ganzheitliche Erzeugung der Buchstaben und ihrer Reihung dar. „Tippen“ ist nämlich im Vergleich dazu nur eine „Zeigebewegung“: man „zeigt“ (tippt) auf einen beabsichtigten Buchstaben, den „Rest“ erledigt die Maschine (Computer ...). Und auch beim Tippen muss man ja eine bestimmte Reihenfolge der Buchstaben erstellen (Spelling), damit ein für Andere verständliches Produkt entsteht.

 

Tippen von Anfang an, wie es manchmal gefordert wird, würde also im Sinne der oben genannten Untersuchung von Cunningham und Stanovich im Normalfall eher den Zugang zur Schriftlichkeit verzögern und nicht erleichtern. Lediglich für Kinder mit besonderen motorischen Schwierigkeiten und spezifischen Lernschwierigkeiten könnte dies ein sinnvoller Weg sein. Es ist aber sicher falsch, solche Besonderheiten und die dafür notwendige „Erleichterung“ als Grundlage für die Ausbildung im Schreiben und Lesen aller Kinder zu nehmen, wie es in der Argumentation für eine Vereinfachung der Schreibausbildung und der Schriften immer wieder anklingt.

 

Zusammenhang Sprache - Sätze - Wörter - LauteZusammenhang Sprache - Sätze - Wörter - LauteWas bedeutet also „Schreiben lernen“? Wenn wir es von der Reihenfolge des Erwerbs her betrachten, dann steht der Erwerb der Buchstaben und ihrer Schreibung an erster Stelle, d.h. der Erwerb der Lautungs-Schreibungs-Beziehung. Denn Buchstaben (oder auch Gruppen von Buchstaben, wie z.B. bei „ph“) verweisen auf die entsprechenden Laute als den Grundelementen der Sprache. Die Sprache verbindet Laute zu Wörtern und Wörter zu Aussagen mit Sinngehalt, nämlich Sätzen. Diese Verbindung muss auch beim Schrifterwerb nachvollzogen werden. Wer beim Sprechen die Laute einzeln mit kleinen Pausen spricht, ist schwer zu verstehen, weil das entsprechende Wort für den Zuhörer nicht gut erkennbar ist. Wörter werden dadurch gebildet, dass deren Laute als verbundene Einheit erzeugt werden. Entsprechend wird beim Schreiben der Zugang zu den Wörtern (Begriffen bzw. Konzepten, vgl.  "Über das Lernen") dadurch erleichtert, dass sie verbunden geschrieben werden. Druckschrift oder andere Varianten einer modularen Schrift, bei denen der Fokus auf den Einzelbuchstaben und nicht auf die Verbindungen gerichtet ist, können diese Gesamtgestalt von Wörtern nicht in gleicher Weise liefern. Wer beim Schrifterwerb auf der Buchstabenebene „hängen bleibt“, kann sich Wörter und deren Schreibweise als „Gesamtheit“ weniger gut einprägen. Das Ergebnis kann dann sein, dass Wörter immer wieder neu „falsch“ geschrieben werden, wie Maria-Anna Schulze Brüning am 16.11.2017 im Interview mit FOCUS online (Quelle: siehe Seite „Verlinkungen“) berichtet. Es lässt sich dazu anmerken, dass gerade die immer wieder neue „Falschschreibung“ ein wichtiges Merkmal der Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) ist.

 

Wird also die Grundbildung zum Schreiben und Lesen in Deutschland vernachlässigt? Vielleicht ist die hohe Zahl funktionaler Analphabeten in Deutschland ein Indikator für diese Vernachlässigung. Denn das Schreiben mit der Hand und der Erwerb des Schreibens kann als Basis des Zugangs zur Schriftlichkeit in allen Facetten gelten. Laut „Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung“ gab es in Deutschland im Jahr 2011 7,5 Millionen funktionale Analphabeten unter den Erwachsenen im Alter von 18 bis 64 Jahren (Ergebnis der sog. Leo-Studie). Der Vorsitzende des Verbandes äußerte, dass knapp 10% der Jugendlichen einem einfachen Text keine Informationen entnehmen können.

 

Druckschrift vs. verbundenes SchreibenDruckschrift vs. verbundenes SchreibenEs lässt sich also festhalten: Verbundene Handschrift liefert den idealen Weg zur Schriftlichkeit. Sie ist und bleibt auch trotz aller „Computerisierung des Unterrichts“ das meistgenutzte und auch stets einsatzfähige schulische „Werkzeug“. Es ist offensichtlich, dass "echte Schreibschriften" (in Deutschland sind das derzeit ausschließlich die Lateinische Ausgangsschrift und die Schulausgangsschrift) den Weg zu einer verbundenen Handschrift besser ebnen als modulare Schriften, weil sie auf die Verbindung von Buchstaben und eine kontinuierlich fließende Schreibbewegung hin entworfen wurden. Solche Schriften sind im Erscheinungsbild notwendigerweise komplexer als Druckschrift. Allerdings gilt, wie Schulze Brüning formuliert (2017; siehe Hinweis auf der Unterseite "Verlinkungen - Hinweise"): "Druckschrift ist nicht einfach". Druckschriftbuchstaben können nämlich gerade wegen ihrer einfacherern Struktur leichter miteinander verwechselt werden als die komplexeren Formen der Schreibschriften, da sie weniger Differenzierungsmerkmale aufweisen. Besonders deutlich ist dies bei den Buchstaben p, q, d und b.

 

d2-Test: Ausschnittd2-Test: AusschnittNicht umsonst werden genau diese Buchstaben in dem psychologischen Aufmerksamkeits-Konzentrations-Test "d2" als Basis genutzt. Die Aufmerksamkeitsleistung besteht darin, wie gut Probanden den Buchstaben d, der mit insgesamt 2 Strichen versehen ist (daher der Name "d2"), unter Zeitdruck von den anderen Buchstaben (b und q, die ebenfalls mit Strichen versehen sind oder auch nicht) und von d's mit weniger oder mehr als zwei Strichen unterscheiden. Die Abbildung (entnommen bei "plakos.de") zeigt ein Beispiel dieses Tests. Der Test macht sich also einerseits die Zahl der Striche, mit denen ein Buchstabe versehen ist, und die "einfache", zur Verwechslung "einladende" Form der Buchstaben (b, d, q) zunutze.

 

In unseren Schulen ist es seit etwa 1990 üblich, den Schreibunterricht mit der Druckschrift zu beginnen. Das Argument dafür ist, dass die Buchstaben der Druckschrift einfacher zu erlernen seien und deshalb die Kinder durch schnelleren Erfolg besser motiviert werden. Im Laufe des ersten Schuljahres, häufig aber auch später, kommt dann eine Schreibschrift. Oft tun sich Kinder mit dieser Umstellung schwer, vor allem dann, wenn der Bewegungsablauf bei den Druckbuchstaben die spätere Umstellung auf die verbundene Schreibschrift nicht berücksichtigt. Eine Untersuchung von  Bara & Morin hat zudem gezeigt, dass Kinder später überwiegend auf die zuerst gelernte Schrift zurückgreifen (Nachzulesen in: Bara, F. & Morin, M-F. (2013). Does the handwriting style learned in first grade determinate the style used in the fourth an fifth grade and influence handwriting speed and quality? A comparison between French and Quebec children. Psychology in the Schools, 50, 601 - 617). Dies dürfte besonders dann der Fall sein, wenn die Druckschrift anfangs besonders lange geübt wurde, die Bewegungsabläufe nicht zu den Schreibschriftbewegungen passen und die verbundene Schrift später nur "nebenbei" eingeübt wurde.

 

Wie also sollte dieses „Werkzeug“ erworben werden? Darüber gibt es in der deutschen Schullandschaft seit langem eine heftige Debatte. Wichtige Aspekte dieser Debatte lassen sich durch die folgenden Fragen darstellen:

  • Welche der in Deutschland erlaubten Schriften sollte in der Grundschule als Ausgangsschrift unterrichtet werden?
  • Sollen Kinder heute überhaupt noch eine verbundene Handschrift erlernen?
  • Welcher Grad an Verbundenheit einer Schrift ist notwendig bzw. sinnvoll?
  • Welche Schrift sollte zuerst unterrichtet werden: Druckschrift oder verbundene Schrift?
  • Was sind die Kriterien, an denen erkennbar wird, ob Kinder das Ziel der Schreibausbildung in der Grundschule erreicht haben?
  • Was sind wichtige Elemente des Unterrichts zum Handschreiben?

Werner Kuhmann